Die Last der Vergangenheit

Fortsetzung: Tolle aus „Eine neue Erde“

„Die Unfähigkeit, oder eher Unwilligkeit, die Vergangenheit fahren zu lassen wird besonders anschaulich in der Geschichte von den zwei Zenmeistern;

Zwei Mönche waren unterwegs auf der Wanderschaft. Eines Tages gelangen sie ans Ufer eines Flusses, dessen Ufer durch eine Regenperiode aufgeweicht waren. Dort stand eine junge Frau in schönen, teuren Kleidern. Offenbar war sie im Begriff, den Fluss zu überqueren. Da das Wasser sehr tief war, hätte sie ihn nicht durchwaten können, ohne dabei ihre Kleider zu schädigen. Ohne zu zögern ging der ältere Mönch auf die Frau zu, hob sie auf seine Schultern und watete mit ihr durch das Wasser. Auf dem gegenüber liegenden Flussufer setzte er sie trockenen Fußes ab. Nachdem der jüngere Mönch ebenfalls den Fluss überquert hatte, setzten die beiden ihre Wanderung fort. Eiige Stunde später fing der Jüngere an, den seinen älteren Kameraden zu kritisieren: „Bist du dir im Klaren, dass du nicht korrekt gehandelt hast, denn wie du weißt, ist es untersagt, näheren Kontakt mit Frauen zu haben oder mit ihnen zu sprechen. Und du hast sie sogar berührt. Wieso hast du gegen diese Regel verstoßen?“ Der Mönch, der die Frau über den Fluss getragen hatte, hörte sich die Vorwürfe des anderen mit Bedacht an. Dann antwortete er ruhig: „Ich habe die Frau nur über den Fluss getragen. Aber Du hast sie bis hier hin getragen.“

Wenn Du Dir einmal vorstellst, wie das Leben für jemanden wäre, der die ganze Zeit wie der jüngere Mönch lebte und aus Unfähigkeit oder Unwillen heraus unfähig ist sich aus einer Situation zu lösen, immer mehr Zeug und Zorn in sich anhäufte, bekämst Du einen Eindruck davon, wie das Leben für die Mehrzahl der Menschen auf der Erde aussieht, wie schwer sie an der Vergangenheit tragen, diese Gedanken mit sich herum schleppen. 

Die Vergangenheit ist als Erinnerung in Dir lebendig, aber die Erinnerungen an sich sind nicht das Problem. Vielmehr lernen wir durch Erinnerungen aus der Vergangenheit, aus früheren Fehlern. Nur wenn Erinnerungen, d.h. Gedanken aus der Vergangenheit so von Dir Besitz ergreifen, dass sie zu einer Last werden, sind sie problematisch und fließen in Dein Selbstgefühl ein, dann wird Deine Persönlichkeit, die durch Deine Vergangenheit konditioniert wurde, zum Gefängnis für Dich. Denn Deine Erinnerungen sind mit Selbstgefühl betrachtet und aus Deiner Geschichte beziehst Du Deine Identität. Dabei ist ist dieses kleine Ich eine Illusion, die Deine wahre Identität als zeitlose, formlose Präsenz verdunkelt.

Deine Geschichte setzt sich aber nicht nur aus mentalen sondern auch aus emotionalen Erinnerungen zusammen – aus alten Empfindungen, die fortwährend erinnert werden. Ebenso wie der Mönch, der an seiner Entrüstung schwer trug, indem er ihr nach und nach Nahrung gab, schleppen die meisten Menschen ihr Leben lang, einen Berg von unnötigen Ballast von Emotionalen – wie Hass und Schuldgefühlen – mit sich herum. Sie schränken sich selbst durch Klagen, Bedauern, Hass und Schuldgefühlen ein. Ihr emotionales Denken ist zu ihrem Selbst geworden und so halten sie an ihren alten Emotionen fest, weil diese ihre Identität stärken. Aufgrund ihrer Neigung  alte Emotionen lebendig zu erhalten, tragen fast alle Menschen in ihrem Energiefeld eine Ansammlung von altem emotionalen Schmerz mit sich herum, den ich den Schmerzkörper nenne. Wir können jedoch damit aufhören dem Schmerzkörper, den wir schon haben, noch mehr Ballast hinzu zu fügen. Wir können lernen mit der Gewohnheit des Ansammelns und Wiederauflebenlassen von alten Emotionen zu brechen, indem wir – bildlich gesprochen – aufhören mit den Flügeln zu schlagen, davon ablassen, mental in der Vergangenheit zu verweilen, wobei es egal ist, ob etwas am Vortag oder vor 30 Jahren geschehen ist. Wir können lernen keine Situationen und Ereignisse im Geist lebendig zu erhalten, sondern unsere Aufmerksamkeit lieber auf den ursprünglichen, zeitlosen, gegenwärtigen Augenblick zu richten, statt uns in einem mentalen Film zu verwickeln lassen. An Stelle der Emotionen tritt dann endlich unsere Präsenz – unsere Identität. Nichts von der Vergangenheit kann Dich davon abhalten jetzt gegenwärtig zu sein und wenn Dich die Vergangenheit nicht davon abhalten kann jetzt präsent zu sein, welche Macht hat sie dann noch?“ 

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Loslassen – Bilanz – Akzeptanz

Es gehört nun mal dazu, dass wenn man einen neuen Lebensabschnitt erreicht hat, dass man Bilanz zieht, zumindest sollte man das – so denke ich. Denn ich will all die guten Dinge, die ich im Laufe meiner Überlebensbemühungen gelernt und mir angeeignet habe – und mitnehmen will – in ein neues Dasein und Sein – wenn ich ohne die schädlichen Auswirkungen meiner Schreckens-Vergangenheit leben möchte. 

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“ 
Wilhelm von Humbold, 1767-1835

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amerikanischen Philosoph und Schriftsteller George Santayana (1863-1952)

Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen

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Gehen wir noch weiter zurück. Goethe (1749-1832) hatte schon erkannt, wie wichtig es ist die Vergangenheit zu kennen, um Handlungen und Entscheidungen, welche in der Gegenwart geschehen, verstehen zu können:

Wer die Vergangenheit eines Menschen nicht kennt, versteht sein Handeln nur schwer.

„Ist es nicht gerade das Privileg der Lebenden, also unser Privileg, aus der Vergangenheit zu lernen, um in der Gegenwart klügere Entscheidungen zu treffen, welche uns selbst, und denen die nach uns folgen, eine bessere Zukunft ermöglichen?“

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„Erzähle mir die Vergangenheit, und ich werde die Zukunft erkennen. „(Konfuzius)

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„Vielleicht müssen wir das loslassen, was wir waren, um das zu werden, was wir sein werden.“

Diese Situation ist mit dem Krankheitsverlauf eines Menschen zu vergleichen, ganz nach dem hermetischen Gesetz: Wie im Großen so im Kleinen, wie im Kleinen so im Großen. Handelt ein Mensch gegen sich selbst und die Schöpfung, wird er krank. Die Krankheit ermöglicht es ihm dies zu erkennen und etwas zu ändern. Dadurch wird er wieder gesund und stärker als zuvor. Erkennt er das nicht, wird er immer mehr krank und immer schwerere Erkrankungen mahnen ihn zur Einsicht. Stellt diese sich nicht ein, stirbt der Mensch an diesen Krankheiten.“

Das habe ich unlängst gelesen und notiert (leider finde ich die Quelle jetzt nicht mehr) weil ich es so wahr finde.

Ich glaube, wenn wir den Fokus ständig auf das – was uns Schlimmes in der Kindheit widerfahren ist – richten – wiederholen wir nur an uns selbst, diese Verletzungen – wieder und wieder.

Eines ist mir klar geworden, mit dem „Erkennen unserer Vergangenheit, damit wir sie loslassen können“ ist sicher nicht gemeint, dass wir uns an jedes kleinste Detail erinnern müssen und unbedingt wissen müssen, was damals geschah. Es reicht, wenn wir zusammengepuzzelt haben, dass wir eine üble Kindheit, mit vielerlei Verletzungen in Seele und Körper erfahren haben. Irgendwann – wenn wir nicht für immer in dem damaligen Schmerz hängenbleiben wollen und nicht stattdessen vorwärts blicken und den Rest an Zukunftsleben unter einem besseren, einem anderen Vorzeichen leben wollen – müssen wir sie hinter uns lassen.